Türkische Fahrzeugbauer schalten einen Gang höher
Getragen von robusten Exporten, boomt die Autoproduktion in der Türkei. Damit sich der Standort im globalen Wettbewerb aber behaupten kann, braucht es mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Bericht verfasst von Marco Kauffmann Bossart, Istanbul /NZZ (Neue Zürcher Zeitung)
Im Januar 2017 entwarf die globale Automobilindustrie ein düsteres Szenario für die Türkei. Es bestehe ein grosses Risiko von wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, befand das «Global Automotive Executive Survey» des Beratungsunternehmens KPMG. Die jährliche Befragung basiert auf den Einschätzungen von 1000 Branchenexperten aus 42 Ländern.
Blickt man allerdings auf einige Eckwerte der türkischen Autobauer, stellt sich unweigerlich die Frage, ob nicht zu schwarz gemalt wurde. Bereits im Putsch-Jahr 2016 hatte die Branche mit 1,48 Mio. produzierten Einheiten einen Spitzenwert erzielt. Davon entfallen rund zwei Drittel auf Pkw, der Rest verteilt sich auf Pick-ups, Lieferwagen und, in deutlich geringerem Masse, Lastwagen. In der Türkei werden heute mehr Autos hergestellt als in der Tschechischen Republik oder Polen.
2017 steuert das Schwellenland laut dem Verband der türkischen Automobilindustrie (OSD) auf einen neuen Höchstwert zu. Toyota etwa kündigte an, die Fertigung um 82% hochzufahren, primär wegen der Produktion des Hybrid-Modells C-HR. Eine Verdoppelung der Kapazitäten bis 2018 kündigte ferner der Nutzfahrzeughersteller Mercedes-Benz Türk an.
Rückläufiger Absatz im Inland
Die einfachste Erklärung für den scheinbaren Widerspruch lautet: Der Boom hat wenig mit der Türkei zu tun. Drei von vier Fahrzeugen, die hierzulande vom Band laufen, gehen in den Export, davon 78% in EU-Länder. Die Ausfuhren haben in diesem Jahr abermals kräftig angezogen, der Absatz auf dem Heimmarkt hingegen ist klar rückläufig. Angesichts der schwachen Lira hat die Kaufkraft der Bevölkerung stark nachgelassen. Zudem liegt die Besteuerung von Autokäufen deutlich über dem Durchschnitt europäischer Staaten.
Neben dem niedrigen Lohnniveau, das sogar unter demjenigen von Produktionsstandorten wie Polen und Ungarn liegt, punktet der Standort Türkei mit vergleichsweise niedrigen Kosten für Energie und einer hohen Verfügbarkeit von Fachkräften. Die Zollunion mit der Europäischen Union stellt zudem sicher, dass Autos zollfrei in den EU-Raum exportiert werden können. Im Handel mit Drittländern gilt der gemeinsame Aussenzolltarif der EU. Trotz der dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara besteht die Zollunion weiter. Allerdings hat Bundeskanzlerin Angela Merkel wegen der willkürlichen Verhaftung deutscher Staatsbürger die von der EU-Kommission vorgeschlagene Ausweitung des Vertragswerks gestoppt.
Die Fahrzeugindustrie des Schwellenlandes dominieren internationale Hersteller (Renault, Fiat, Hyundai, Honda, Toyota, Ford) in Kooperation mit lokalen Partnern. Ford-Otosan in Bursa, ein Zentrum der türkischen Autoindustrie, beispielsweise ist ein Joint Venture zwischen der amerikanischen Ford Motor Company und der Koc-Holding, dem grössten türkischen Familien-Konglomerat. Im Schatten der bekannten Marken arbeitet eine breit gefächerte Zulieferindustrie.
Schwachpunkt Forschung
Nachholbedarf besteht laut Branchenanalytikern allerdings in der Forschung und Entwicklung (F&E). In der türkischen Industrie wird durchschnittlich 1% des Umsatzes in F&E investiert. Laut dem Branchenverband OSD sind es bei den Autobauern beinahe 3%. Sie liegen somit über dem Mittelwert des ganzen Industriesektors. Künftig soll aber noch mehr in die Forschung fliessen. Hintergrund für den Investitionsschub in der Automobilindustrie ist die fortschreitende Digitalisierung. Wenn weniger Personal an den Fertigungsstrassen steht, verliert der komparative Kostenvorteil bei den Löhnen allerdings stark an Bedeutung.
Mitfinanziert wird die F&E-Offensive von der öffentlichen Hand unter dem Schlagwort «Industrie 4.0». Ziel ist die Verschmelzung industrieller Prozesse mit der Informationstechnologie. Dass die Türkei bezüglich technischer Entwicklung noch viel Luft nach oben hat, unterstreicht die Exportstatistik des Schwellenlandes: Nur 3,5% der Industrieprodukte sind Hightech-Güter.
Nach Einschätzung von Hakan Ölekli, der bei KMPG die türkische Automobilindustrie analysiert, braucht die Türkei mehr Informatiker, um die Fahrzeugbranche an den Standard «Industrie 4.0» heranzuführen. Ölekli verweist darauf, dass Wettbewerber in Osteuropa und Nordafrika versuchten, sich ebenfalls als Eingangstor zum europäischen Markt zu positionieren. In den vergangenen Jahren habe die globale Autoindustrie bei Investitionsentscheiden verschiedentlich andere Standorte der Türkei vorgezogen.
Schleichende Verschlechterung
Ein Indiz für das angeschlagene Image des Wirtschaftsstandorts Türkei ist die Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen: Nach einem Einbruch der Kapitalzuflüsse um 30% (auf 12,3 Mrd. $) im Jahr 2016 prognostiziert das Marktforschungsunternehmen Economist Intelligence Unit für das laufende Jahr abermals einen Rückgang (auf 10,5 Mrd. $).
Gemessen an den dramatischen Ereignissen von 2016, als Terroranschläge zum Alltag gehörten und der vereitelte Staatsstreich die Republik in ihren Grundfesten erschütterte, hat die Türkei wieder zu einer gewissen Stabilität zurückgefunden. Die vom «Global Automotive Executive Survey 2017» prophezeiten schweren Verwerfungen sind ausgeblieben. Weniger Aufmerksamkeit findet indes die schleichende Verschlechterung der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht nur für die Autobranche. Das Land bewegt sich kontinuierlich auf eine Autokratie zu, was sich in fehlender Transparenz und geringerer Rechtssicherheit für Investoren niederschlägt.
Die Zangengeburt «Türk-Mobil»
Die Vorgabe von Recep Tayyip Erdogan lässt keinen Spielraum: Ein Auto, zu 100% in der Türkei hergestellt, wünscht sich der Staatschef. Erdogan hat seinen Entwicklungsauftrag im Juli bekräftigt. Doch daran getüftelt wird schon seit Jahren. Ziel ist ein Elektrofahrzeug, «besser als ein Tesla», erklärte ein Minister grossspurig und mit einem Seitenhieb auf den amerikanischen Trendsetter.
Aus dem Nachlass des kollabierten Autobauers Saab hatte die staatliche Forschungsanstalt Tübitak 2015 die Lizenz für das Modell 9-3 erworben. Wie viel die Türkei den neuen Saab-Eigentümern, der chinesischen Investmentgruppe Nevs, bezahlte, wurde nicht offengelegt. Türkische Medien, damals noch weniger am staatlichen Gängelband, nannten eine Summe von 40 Mio. €. Vereinbart wurde, dass Nevs die Vorproduktion steuert und Prototypen entwickelt. Die Massenfertigung soll, ohne Beteiligung von Nevs, in der Türkei stattfinden.
Ein überoptimistischer Forschungsminister hatte das nationale Automobil ursprünglich für 2016 in Aussicht gestellt, später wurde 2019 genannt. Jetzt peilt die Regierung 2020 an. Wieso dauert es länger als ursprünglich erhofft? In der Türkei halten sich hartnäckig Gerüchte, die Chinesen hätten das Kapital aus der Türkei statt für die Entwicklung des türkischen Elektroautos primär dazu gebraucht, um Schulden abzuzahlen. Offiziell bestätigen will diese Theorie niemand. Allerdings soll der neue Forschungsminister Faruk Özlü kürzlich auf jede Erwähnung von Nevs verzichtet haben - ein mögliches Indiz dafür, dass man sich nach anderen Partnern umsieht.
Quelle: NZZ (Neue Zürcher Zeitung)
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