Viele Bürger und Bürgerinnen glauben nicht daran, dass der Pakt eine Entschärfung der Asylsituation in Europa bringt. Einschätzungen von Auslandredaktor Joe Schelbert.
Am 17. März versuchen die EU-Staaten erneut, mit der Türkei ein Abkommen auszuhandeln, das den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa stoppen soll. Letztes Jahr verzeichnete die EU 1,2 Millionen Asylbewerber, und seit Jahresbeginn haben erneut rund 140‘000 Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland übergesetzt.
Doch der sogenannte Flüchtlingspakt mit der Türkei ist nicht nur menschenrechtlich, politisch und ethisch umstritten, viele Bürgerinnen und Bürger in Europa zweifeln, dass dieser Pakt tatsächlich den Zustrom von Flüchtlingen dämpfen wird.
>>Die Türkei wird nichts tun, um den Zustrom von Flüchtlingen zu stoppen<<
Tatsächlich kann die Türkei kein Interesse haben, die Flüchtlinge nicht weiterreisen zu lassen. Schliesslich beherbergt die Türkei schon heute 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder aus Afghanistan. Es gibt für die Türkei keinen Grund, diese Last den Europäern abzunehmen, schliesslich will die überwiegende Mehrheit der Flüchtenden ja nach Europa.
Die Betreuung der Flüchtlinge und die Kontrolle der Grenze kosten. Ergo wird die Türkei nur bereit sein, etwas zu unternehmen, wenn das Land entschädigt wird, mit Geld, der Aussicht auf EU-Beitrittsverhandlungen oder Visaerleichterungen für seine Bürger. Aber da tun sich die Europäer schwer.
Das Geld wäre vielleicht noch aufzubringen, aber die Türkei in der EU können sich viele nicht vorstellen. Und bei Visaerleichterungen fürchten viele, dass dann statt Flüchtlingen einfach Millionen von Türken aus Ostanatolien, wo der türkisch-kurdische Krieg tobt, den Weg nach Europa suchen werden.
Die Balkanroute ist dicht
Tatsächlich ist es in diesen Tagen für Flüchtlinge fast aussichtslos, von Griechenland aus über die sogenannte Balkanroute nach Nordeuropa zu gelangen. Zäune, Visapflicht und Razzien in Zügen und auf der Strasse machen dies schier unmöglich.
Doch es wird eine Frage der Zeit sein, bis Schlepper neue Wege über diese Route, aber auch über Bulgarien-Ungarn oder über Albanien und Italien aufzeigen. Die Abriegelung der Balkanroute auch durch die EU-Staaten Slowenien und Österreich widerspricht zudem der EU-Reisefreiheit. Und Italien oder Ungarn wehren sich gegen dieses Schwarz-Peter-Spiel, weil früher oder später die Flüchtlinge durch ihre Länder den Weg nach Norden suchen.
Die Schliessung der Balkanroute bürdet auch dem wirtschaftlich schon gebeutelten Griechenland weitere Lasten auf. Griechenland bereitet zur Zeit Unterkünfte für 100‘000 Flüchtlinge vor – das kostet, und die Solidarität der übrigen EU-Staaten mit Griechenland ist wenig ausgeprägt.
Die EU agiert im Flüchtlingsdrama konzeptlos
Die EU-Zentrale in Brüssel und die EU-Staaten haben viele Konzepte, aber sie widersprechen sich teilweise diametral. Die EU-Kommission will die Flüchtlinge per Verteilschlüssel den EU-Staaten zuweisen, vor allem Balten und Osteuropäer weisen dieses Ansinnen jedoch zurück.
Die EU-Kommission will die Aussengrenzen kontrollieren, doch verschiedene Staaten glauben nicht an den schnellen Erfolg dieser Massnahme und schliessen die Binnengrenzen.
Die EU-Zentrale möchte mit Rückführungsabkommen, zum Beispiel mit der Türkei, die Zahl der Asylbewerber senken, doch einzelne EU-Staaten wie Slowenien oder Österreich haben schon eigenmächtig Obergrenzen eingeführt.
Zudem glauben viele Staaten nicht an den Effekt von Abkommen, sei es mit der Türkei, Libyen oder Tunesien. Oder der Preis ist ihnen zu hoch, wenn der Türkei etwa Visafreiheit zugestanden wird. Es wird also schwierig sein, am EU-Gipfel am 17. März die EU-Staaten auf eine Linie zu bringen.
Egal, was die Politik tut, es kommen sowieso immer mehr Flüchtlinge
Das ist so. Die Flucht aus Syrien, Irak, Afghanistan etwa wird anhalten, solange in diesen Staaten Krieg herrscht. Die Menschen werden nicht einfach in diesen Ländern bleiben, nur weil Europa sie nicht will.
Anhalten wird auch die Wanderung aus den Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon oder der Türkei, die seit Jahren die Hauptlast der Betreuung auf sich nehmen. Viele europäische Staaten haben im letzten Jahr etwa ihre Beiträge für das Ernährungsprogramm der UNO gekürzt, was die Versorgung in den Flüchtlingslagern verschlechterte.
Es bräuchte Milliardenunterstützung für die Betreuung dieser Flüchtlinge in den Lagern in Jordanien, in Libanon oder in der Türkei. Es bräuchte quasi einen «Marshallplan» für die Region, der das Ende der Militärinterventionen, des Waffenhandels, des Wegschauens bei Menschenrechtsverletzungen der jeweils eigenen Verbündeten beinhaltet. Es bräuchte auch das Ende des «brain drains», das die kriegsgebeutelten Staaten doppelt ausbluten lässt.
Doch selbst bei sofortiger Umsetzung dieser utopischen Pläne würde es lange dauern, bis die gewünschte Wirkung spürbar wäre. Bis dahin werden die reichen Regionen wie Europa mit dieser neuen Völkerwanderung konfrontiert sein.