«Leg dich nicht mit einer Schlange ins Bett»
Mevlüt Cavusoglu verlangt von der EU nachdrücklich die Aufhebung der Visumspflicht. Amerika bezichtigt er der Doppelbödigkeit. Lob zollt der türkische Aussenminister indes Bundeskanzlerin Merkel.
Herr Aussenminister, die türkische Aussenpolitik fand einst viel Anerkennung, weil sie Brücken zu den Nachbarländern schlug. Jetzt gibt es überall Spannungen. In Ankara wird über eine Integration von Teilen des Irak und Syriens in die Türkei diskutiert. Sind das nicht gefährliche Gedankenspiele?
Ich weiss nicht, auf welcher Grundlage Sie diese Behauptungen aufstellen. Es gibt keine solche Politik. Wir sind doch nicht dafür verantwortlich, was in unseren Nachbarländern vorgefallen ist. Haben wir den Arabischen Frühling losgetreten? Sollen wir dafür verantwortlich sein, dass Syrien im Chaos versinkt? Haben wir gefordert, der Irak müsse besetzt werden? Nein. Wir haben es nicht auf irgendwelche Gebiete abgesehen. Die Türkei hält das Prinzip der territorialen Integrität hoch.
Aber Griechenland ist alarmiert, weil Staatspräsident Erdogan den Vertrag von Lausanne infrage stellt; jenes Abkommen also, das 1923 die Grenzen der heutigen Türkei festlegte.
Wir wollen den Vertrag von Lausanne nicht aufkündigen. Wieso ist Griechenland besorgt? Dieses Abkommen kam den Griechen entgegen. Deshalb sind sie sehr zufrieden damit. Wir kritisieren unsere damalige Führung, die den Text aushandelte, nicht Griechenland oder sonst wen. Am Verhandlungstisch kämpft jeder für seine Interessen. Der Lausanner Vertrag ist vielleicht unvollständig oder falsch gewesen, aber er gilt. Lassen sie mich einen Vergleich ziehen: Ist der Dayton-Vertrag im Moment gut für Bosnien-Herzegowina? Nein, das muss man offen eingestehen. Aber es war dringend ein Vertrag nötig, um den Krieg und den Völkermord zu beenden. Muss man jetzt sagen, der Dayton-Vertrag sei ein sehr gutes Abkommen? Nein, das wäre nicht aufrichtig.
«Nicht nur für Deutschland ist Frau Merkel eine sehr mutige Person.»
Die Türkei akzeptiert den Lausanner Vertrag also ohne Wenn und Aber?
Selbstverständlich. Die Türkei hält sich an jede Vereinbarung – auch an das Flüchtlingsabkommen mit der EU vom März 2016.
Bevor wir zur Flüchtlingspolitik kommen, nochmals zu Syrien. Die Türkei startete dort im August eine Offensive. Was wollen Sie mit der Operation «Schutzschild Euphrat» erreichen?
Erstens: Daesh (arabische Bezeichnung für den IS, Anm. d. Red.) zu besiegen und die Grenzregion vollständig von Daesh zu säubern. Wir streben ein von Terroristen befreites Gebiet bis al-Bab an und wollen den Manbij-Korridor sichern. Von dort hat Daesh unzählige Male türkische Gebiete mit Raketen attackiert und Menschen getötet. Zweitens: Wir wollen dort eine Sicherheitszone einrichten. Im Rahmen der Operation sind schon jetzt 5000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in ihre Heimat zurückgekehrt. Wir müssen in diesem Gebiet Schulen einrichten, Häuser bauen, die Flüchtlinge versorgen. All das machen wir schon in Jarablus. Aber niemand dankt uns dafür. Die anderen Staaten beten, dass keine Flüchtlinge zu ihnen kommen.
Sie fordern eine Schutzzone, die mit einer Flugverbotszone abgesichert wird. Haben Sie dafür genügend Unterstützung?
Frankreich unterstützt dies, Grossbritannien im Grunde genommen auch. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat im Prinzip zugestimmt. Wenn die Flüchtlinge in einer solchen Zone leben, wird Europa aufatmen. Schlagen sie sich hingegen nach Europa durch, ist Frau Merkel am meisten unter Druck. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa ist Frau Merkel eine sehr mutige Person. Sie sucht Lösungen für die Probleme. Die Frage ist, wie man diese Sicherheitszone umsetzt und welche Haltung Russland und das syrische Regime einnehmen werden.
Glauben Sie, dass Russland einlenkt?
Präsident Putin hat meines Wissens keine Einwände vorgebracht. Auf der anderen Seite haben sie keinen konkreten Alternativvorschlag.
Die Türkei will in die «IS-Hauptstadt» Rakka vorstossen. Nach amerikanischem Verständnis braucht es dafür die kurdischen YPG-Kämpfer, die Manbij kontrollieren. Ankara wiederum betrachtet die YPG wegen ihrer Nähe zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Terrororganisation. Gibt es eine Einigung?
Die Differenzen sind nicht ausgeräumt. Die Zusammenarbeit mit einer Terrororganisation geziemt sich nicht für einen Staat, der selber gegen Terror vorgehen will. Für einen Nato-Verbündeten schon gar nicht. YPG-Leute waren in der Türkei als Selbstmordattentäter unterwegs. Wenn die Amerikaner nicht die Erwartungen der YPG erfüllen, werden diese Terroristen dereinst auch die Vereinigten Staaten angreifen. Es gibt ein türkisches Sprichwort: Leg dich nicht mit einer Schlange ins Bett.
Das Misstrauen zwischen den USA und der Türkei beeinträchtigt den Kampf gegen den IS. Vertrauen Sie persönlich der amerikanischen Administration?
In vielen Bereichen haben wir mit den Amerikanern eine gute Zusammenarbeit, vor allem bei der Terrorbekämpfung. Es gibt zwei Punkte, wo wir uns nicht verständigen: ihr Verhältnis zur YPG, die sie mit Waffen ausrüsten, die wir bei der PKK wiederfinden. Zweitens: Fethullah Gülen. Solange sie diesen Geisteskranken, der sich als Imam des Universums versteht und den Putschversuch orchestrierte, nicht ausliefern, leiden unsere Beziehungen.
Washington will die Familien von Angestellten des Istanbuler Generalkonsulats aus der Türkei abziehen. Wie gross ist die Bedrohung von IS-Kämpfern, die in die Türkei zurückkehren?
Je erfolgreicher die Türkei Daesh in die Ecke treibt, desto stärker richtet sich deren Wut gegen uns. Wir sind sehr effektiv bei der Bekämpfung ihrer Ideologie. Unser Staatspräsident hat klipp und klar gesagt, dass sie nichts mit dem Islam zu tun haben. Und wenn Herr Erdogan dies sagt, wird es in der islamischen Welt respektiert. Aus diesem Grund sind wir mehrfach zur Zielscheibe von Daesh geworden. Aber weil wir auch in der Türkei sehr entschieden gegen den IS vorgehen, ist es ihnen zuletzt kaum mehr gelungen, Anschläge zu verüben. Den Entscheid der Amerikaner, Familien auszufliegen, halten wir für falsch. Ich habe Aussenminister Kerry gesagt: Istanbul oder Ankara ist nicht unsicherer als irgendein US-Gliedstaat. Am Tag, als die Amerikaner über diese Sicherheitsmassnahme informierten, sind allein in der Stadt Chicago 12 Personen getötet worden. Überall, in jeder Stadt gibt es eine Bedrohung. Aber wenn wir vor Angst davonrennen, dann gewinnen die Terroristen.
Der Krieg gegen den IS wird neue Flüchtlingswellen auslösen. Zugleich steht das Flüchtlingsabkommen mit der EU wegen der Kontroverse um die Visabefreiung für die Türken auf der Kippe. Mehrere Fristen aus Ankara sind verstrichen. Wie lange gedulden Sie sich noch?
Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu. Wir warten auf eine Antwort in diesen Tagen. Wenn die nicht kommt, werden wir die Vereinbarung kündigen. Brüssel sollte uns nicht hinhalten. Die EU wollte, dass das Abkommen weiterläuft – zu ihren Gunsten. Brüssel möchte eine Änderung unserer Anti-Terror-Gesetzgebung. Wir haben Lösungsvorschläge unterbreitet. Wir haben in den letzten 14 Jahren viel geändert auf Empfehlung der EU. Wenn aber einige europäische Länder ihre Terrorgesetze verschärfen und die Türkei gleichzeitig dazu angehalten wird, die ihrigen aufzuweichen, würde das unser Volk als Schwächung der Terrorbekämpfung verstehen. Und vergessen wir nicht: Anderen Ländern, etwa in Lateinamerika, hat man keine solchen Auflagen gemacht. Wir halten uns an die Abkommen mit der EU und erwarten, dass Europa dasselbe tut. Wenn das nicht geschieht, werden wir die Abkommen mit der EU auf diesem Gebiet aussetzen.
Wann?
Wir warten nicht bis Jahresende. Wir haben eigentlich Ende Oktober gesagt.
Die Türkei hat mehrfach erklärt, die Bedingungen für die Visafreiheit seien erfüllt. Ende September stellte die EU-Kommission aber fest, dass 7 von 72 Auflagen nicht umgesetzt wurden.
Es waren bloss fünf. Und bei vier der fünf haben wir uns verständigt. Nur das Anti-Terror-Gesetz ist noch übrig.
Sehen Sie Möglichkeiten für einen Kompromiss? Kann sich die Türkei bewegen?
Interessanterweise müssen immer wir einen Kompromiss eingehen, wir haben bei mehreren Punkten eingelenkt. Beim Terror sehe ich keine anderen Möglichkeiten. Da können wir gegenüber der EU keine Zugeständnisse machen. Die Europäer haben nicht diesen Putschversuch erlebt. Sie wurden nicht aus der Luft beschossen. Sie mussten nicht gegen Panzer vorgehen. Sie haben nicht das Leben von 241 Menschen verloren. Sie kämpfen nicht gegen alle diese Terrororganisationen, Daesh, die PKK und Fethullah Gülens Netzwerk.
«Wir diskutieren in der Partei und der Regierung ganz offen über die Todesstrafe.»
Niemand in Europa spricht der Türkei das Recht ab, Putschisten und Terroristen hinter Gitter zu bringen. Aber man versteht nicht, dass die Anti-Terror-Gesetze Intellektuelle und Journalisten treffen.
Auch Europa nimmt Personen ins Visier, die Terror unterstützen. Europa sollte uns nicht belehren, sondern gegen rassistische Strömungen vorgehen, gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie. Dies sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Türkei setzt sich wie kaum ein anderes Land dafür ein, dass im Nahen Osten, in Nordafrika und Zentralasien Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte und somit Grundwerte der EU gestärkt werden. Wenn wir die Rechte von Türken in einigen EU-Ländern ansprechen, heisst es jedoch, mischt euch nicht in die Angelegenheiten unseres Landes ein. In Westthrakien in Griechenland beispielsweise können die Türken das Wort «türkisch» in ihren Vereinsnamen nicht nutzen – trotz Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. Und niemand sagt etwas. Weil Griechenland EU-Mitglied ist. Andere Länder mischen sich aber sehr wohl bei uns ein.
Hat die Türkei die Hoffnung aufgegeben, EU-Mitglied zu werden? Der Präsident will wieder die Todesstrafe einführen. Das wäre das Ende der Verhandlungen.
Präsident Erdogan hat unterstrichen, dass er eine Annahme durch das Parlament ratifizieren würde. Das Parlament vertritt das Volk. Jeder hat seine persönliche Meinung. Aber wenn das Parlament dem zustimme, werde er sich nicht dagegen wehren.
Sie haben sich nach dem Putschversuch gegen die Todesstrafe ausgesprochen und erwähnt, Sie hätten sogar ihre Frau umgestimmt. Werden Sie jetzt versuchen, Präsident Erdogan umzustimmen?
Wir diskutieren in der Partei und der Regierung ganz offen über die Todesstrafe. Aber irgendwann wird eine Entscheidung gefällt. Und dann wird gemacht, was die Mehrheit will. So funktioniert Demokratie.
Kommen wir zum Schluss auf Gülen zurück. Die Regierungspartei AKP hat lange eng mit dem Prediger, der den Staatsstreich orchestriert haben soll, kooperiert. Nach dem 15. Juli sagte Präsident Erdogan sinngemäss: Wir haben uns getäuscht – sorry. Macht es sich die türkische Führung da nicht zu einfach?
Dass sie eine geheime Agenda hatten, wussten wir nicht. Sie haben den Glauben der Bevölkerung missbraucht, in dem sie die Religion und sprachliche Verbindungen benutzten. Es gab auch ein anderes Ziel: Sie unterwanderten den Staat und griffen schliesslich auch Präsident Erdogan an. Die Gezi-Proteste von 2013 wurden aus dieser Ecke angefacht. Wenn wir Selbstkritik üben sollen, dann können wir eingestehen, dass sich eine solche Terrororganisation im Staat gar nicht hätte einnisten sollen. Aber wir hätten nie gedacht, dass von dieser Bewegung eine dermassen grosse Gefahr ausgehen könnte.
Ein scharfzüngiger Europa-Experte
kam. Ankara ⋅ Mevlüt Cavusoglu wurde im Dezember 2013 vom damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zum Europaminister berufen und führte die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Im August 2014 wechselte er an die Spitze des Aussenministeriums; eine Funktion, die er im «doppelten Wahljahr» 2015 für drei Monate niederlegte. Das Gründungsmitglied der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP gilt als loyaler Gefolgsmann Erdogans. Cavusoglu, der nicht vor undiplomatischen Äusserungen zurückschreckt, stammt aus der südtürkischen Provinz Antalya. Ein EU-Stipendium führte ihn an die London School of Economics, wo er – wie er in einem Interview einmal sagte – seiner Frau Hülya das Kochen beibrachte. Im Unterschied zu den meisten anderen Ehefrauen von AKP-Spitzenpolitikern trägt sie kein Kopftuch. 2007 wurde der heute 48-Jährige erstmals in das türkische Parlament gewählt. Zwischen 2012 und 2014 präsidierte mit Cavusoglu erstmals ein Muslim die Parlamentarische Versammlung des Europarats.
Quelle: NZZ
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